Im Aufsatz über das Bauen mit Ziegeln schreibt der deutsche Architekt und Hochschulprofessor Arno Lederer:
„Natürlich geht es uns bei der ganzen Diskussion um ein adäquates Material um mehr als nur um die Verwendung von Ziegelstein. Wir sind der Überzeugung, dass es ein Gegenstück, eine Gegenposition zur grenzüberschreitenden Euphorie der Stahl- und Glasarchitektur des 20. Jahrhunderts geben muss, dass nach wie vor gerade der spürbare Unterschied zwischen Innenund Außenraum die Architektur bereichert, dass der Innenraum sich spannungsreich vom Äußeren unterscheidet und uns durch seine körperhafte Umhüllung und haptischen Qualitäten etwas von einer Welt erzählen kann, die es außen (nicht mehr) gibt. Häufig fehlt den Gebäuden der zeitgenössischen Architektur diese Überraschung, die wir an alten Häusern so zu schätzen wissen.“
Lederer vertritt damit nicht das traditionelle Bauen im engeren Sinn, es geht ihm nicht um Nostalgie oder Sentimentalität, sondern um eine nicht unmittelbar messbare Qualität von guter Architektur, die vielleicht mit dem etwas diffusen Begriff „Atmosphäre“ beschrieben werden kann.
Wie eingangs erwähnt ist der Ziegel zuerst einmal praktisch: hinsichtlich seiner Verfügbarkeit, seiner Herstellung, seiner Handhabung, seines modularen Charakters und seiner bauphysikalischen Eigenschaften.
Wenn wir jedoch heute von Ziegelbau sprechen, so sprechen wir von einer breiten Palette an industriell gefertigten, glatten, scharfkantigen Spezialprodukten und nicht von der kleinsten Einheit, dem NF-Ziegel. All diese Ziegel – vom Hochloch- über den Schallschutz- bis zum Dämmziegel, Mauer-, Kamin-, Decken-, Boden- und Wandziegel — haben ihre Berechtigung und werden in großem Maßstab und im täglichen Bauwesen verwendet.
Spricht man jedoch von Ziegeln im Zusammenhang mit Architektur, mit Baukunst, so steht der kleinformatige Mauerziegel im Vordergrund, weil er es ist, der weit mehr ist als praktisch. Er ist ein Naturprodukt, er ist authentisch, er entwickelt eine besonders schöne Patina, er ist zugleich homogen und individuell, er kann unterschiedlichste Stimmungen hervorrufen. Kurz: Er hat Atmosphäre.
Diese Eigenschaft ist es, die Architekten fasziniert und weshalb der Ziegel nach wie vor einen hohen gestalterischen Stellenwert besitzt – egal ob als Massivmauerwerk, als Vorsatzschale, ob im Innen- oder im Außenraum, für Neubauten oder Zu- und Umbauten, auf jeden Fall mit sichtbarer, behandelter oder unbehandelter Oberfläche.
Drei Beispiele mögen das veranschaulichen: Zuerst das Haus Baladin in Antwerpen vom belgischen Architekturbüro De Vylder Vinck Tallieu. Sie stehen für eine unprätentiöse, regional geprägte und dennoch unorthodoxe Architektur. Ihre Bauten wirken oft unfertig, improvisiert, sind aber präzise durchdachte und sorgfältig komponierte räumliche Gefüge, bei denen die Nutzung im Mittelpunkt steht.
Besagtes Wohnhaus scheint auf den ersten Blick ein renovierter Altbau zu sein, erst bei näherer Betrachtung treten die Irritationen zutage, die darauf hinweisen, dass es sich um ein neues Haus handelt: Die unterschiedlichen Fenstermaße und Ziegelverbände, die „verkehrt“ versetzten Fensterrahmen, die „zugemauerten“ Öffnungen.
Hier wird kein Altbau vorgetäuscht, aber es wird mit Sehgewohnheiten gespielt, die im konkreten Fall darauf hinweisen, dass hier einmal zwei ältere Häuser standen. Die Ziegelfassade (die sich im schmalen Durchgang in den Hof fortsetzt) dient dazu, diese Verknüpfung herzustellen, jedes historisierende Klischee wird jedoch vermieden und stattdessen mit leiser Ironie ein Überraschungseffekt hervorgerufen, der dem Betrachter bewusst macht, wie leicht der oberflächliche Blick aus dem Augenwinkel täuscht und wie schnell Assoziationsketten entstehen, die hier zugleich falsch und richtig sind.
Ganz anders verhält es sich mit dem Doppelhaus Mabi & Mibi vom Linzer Architekten Klaus Leitner. Formal an Klassiker der Moderne in der näheren Umgebung anknüpfend – die Wiener Werkbundsiedlung sowie Villen von Josef Frank und Adolf Loos – entwarf Leitner zwei Häuser, deren äußere Farbgebung darauf ausgerichtet ist, mit der umgebenden Landschaft zu korrespondieren.
Die rötlich-graue Fassade besteht aus speziell angefertigten Ziegeln mit ockerfarbigem Sand als Zuschlagstoff. Sie wurden nicht klassisch, sondern mit breiter Stoß- und Lagerfuge verlegt, der fast gleichfarbige Mörtel reicht bis an die Außenkante. So entsteht eine fast homogene Fläche, die durch die aus eingefärbten Betonfertigteilen bestehenden Türen- und Fensterüberlager noch betont wird, aber dennoch eine fein abgestufte, fast wolkige Schattierung aufweist.
Entspricht die „Atmosphäre“ beim Haus Baladin einer unbefangenen, humorvollen Direktheit, so stehen hier Eleganz und eine Art von veredeltem Understatement im Vordergrund.
Als letztes Beispiel für zeitgenössische Ziegelarchitektur in Europa sei die Galerie für zeitgenössische Kunst im deutschen Marktoberdorf, geplant vom schweizerischen Architektenduo Bearth & Deplazes, genannt. Die Wände der beiden würfelförmigen Baukörper bestehen aus roten, im Blockverband gemauerten Ziegeln. Hier wird dezidiert vermieden, einen White Cube oder eine Black Box zur Verfügung zu stellen. Stattdessen soll das innen und außen unverputzte Mauerwerk sowohl Kuratoren als auch Künstler, die vor Ort tätig sind, zu spezifischen Produktionen bzw. Interventionen und Ausstellungen inspirieren. Der präzise verlegte klassische Blockverband mit weißer Fuge entfaltet durch die großflächige Anwendung auf zum Teil fensterlosen Fassaden eine zugleich elementare sowie ornamentale Kraft.
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